Die deutsche Philosophie hat in der Zeit vom Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft (1781) bis zu dem in den 1860er Jahren entstehenden Neukantianismus eine solche Blüte erlebt, daß Intellektuelle in ganz Europa sich einer direkten Bezugnahme auf die neuesten Ergebnisse der deutschen philosophischen Debatte nicht entziehen konnten. England und Frankreich sind die ersten Länder, in denen die Spuren einer Rezeption der Kantschen Philosophie zu finden sind. Dies ist nicht verwunderlich, war doch die philosophische Debatte zwischen deutschen Gelehrten und ihren Ansprechpartnern in diesen zwei Ländern schon im 18. Jahrhundert besonders aktiv. Die deutsche vorkantische Schulphilosophie stand vorwiegend noch unter dem Einfluß der französischen Aufklärung; die Entstehung der deutschen Romantik verdankte sich Impulsen der englischen Kultur auf die deutsche. Mit Kant aber trat eine Umkehrung dieser Tendenz ein. Von nun an sollten deutsche Intellektuelle, statt vorwiegend philosophische Ideen zu importie- ren, ihre eigenen philosophischen Arbeiten in die anderen Länder exportieren. Die französische Rezeption der deutschen Philosophie erfüllte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige, wenn auch durch Mißverständnisse dieses philosophischen Den- kens belastete Vermittlungsfunktion: Die französischen Übersetzungen, Kommentare und Inter- pretationen deutscher Werke waren die ersten und für lange Zeit die einzigen Quellen, die dem philosophischen Denken in Italien und Spanien den Zugang zur kritischen Philosophie Kants und zu den Systemen Fichtes, Schellings und Hegels eröffneten. Sowohl für den italienischen als auch für den spanischen Bereich war die Bezugnahme auf die deutsche Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts ein probates Mittel, die Intellektuellen zur sozialen, politischen und kulturellen Erneuerung ihrer Länder aufzurufen, also analog der Funktion, welche die Philosophie auch in Deutschland fast fünfzig Jahre zuvor ausgeübt hatte. Vergleichbares gilt, wie in diesem Kapitel gezeigt wird, auch für Polen oder für Finnland. Nationale kulturelle Traditionen und Zukunftsperspektiven haben bei den Rezeptionen des Deutschen Idealismus eine große Rolle gespielt und ihm jeweils ein besonderes Profil gegeben. Berücksichtigt man aber auch die wechselseitigen Interaktionen zwischen den nationalen Re- zeptionen, so wird über besondere nationale Merkmale hinaus der allgemein europäische Charakter der Wirkung des Deutschen Idealismus deutlich. Im ausgehenden 20. Jahrhundert war das Interesse am Deutschen Idealismus für eine gewisse Zeit rückläufig. Die nicht zuletzt im Kontext der Analytischen Philosophie, aber auch in Perspek- tiven von Einzelwissenschaften – z.B. an der spekulativen Erkenntnis-, Natur- und Geschichtsphilosophie – formulierte Kritik am metaphysischen Charakter des idealistischen Theorietypus ließ ihn als überholt erscheinen. Gegenwärtig ist ein Umdenken zu verzeichnen: Der Deutsche Idealismus zieht, wie die große Anzahl von ihm gewidmeten Quelleneditionen und Publikatio- nen sowie das Erscheinen des Internationalen Jahrbuchs des Deutschen Idealismus/ Internati- onal Yearbook of German Idealism (seit 2003) zeigt, in Forschung und Lehre neue Aufmerk- samkeit auf sich; er ist nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern weltweit aktuell.

Die internationale Rezeption des deutschen Idealismus

D'ALFONSO, Matteo Vincenzo
2005

Abstract

Die deutsche Philosophie hat in der Zeit vom Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft (1781) bis zu dem in den 1860er Jahren entstehenden Neukantianismus eine solche Blüte erlebt, daß Intellektuelle in ganz Europa sich einer direkten Bezugnahme auf die neuesten Ergebnisse der deutschen philosophischen Debatte nicht entziehen konnten. England und Frankreich sind die ersten Länder, in denen die Spuren einer Rezeption der Kantschen Philosophie zu finden sind. Dies ist nicht verwunderlich, war doch die philosophische Debatte zwischen deutschen Gelehrten und ihren Ansprechpartnern in diesen zwei Ländern schon im 18. Jahrhundert besonders aktiv. Die deutsche vorkantische Schulphilosophie stand vorwiegend noch unter dem Einfluß der französischen Aufklärung; die Entstehung der deutschen Romantik verdankte sich Impulsen der englischen Kultur auf die deutsche. Mit Kant aber trat eine Umkehrung dieser Tendenz ein. Von nun an sollten deutsche Intellektuelle, statt vorwiegend philosophische Ideen zu importie- ren, ihre eigenen philosophischen Arbeiten in die anderen Länder exportieren. Die französische Rezeption der deutschen Philosophie erfüllte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige, wenn auch durch Mißverständnisse dieses philosophischen Den- kens belastete Vermittlungsfunktion: Die französischen Übersetzungen, Kommentare und Inter- pretationen deutscher Werke waren die ersten und für lange Zeit die einzigen Quellen, die dem philosophischen Denken in Italien und Spanien den Zugang zur kritischen Philosophie Kants und zu den Systemen Fichtes, Schellings und Hegels eröffneten. Sowohl für den italienischen als auch für den spanischen Bereich war die Bezugnahme auf die deutsche Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts ein probates Mittel, die Intellektuellen zur sozialen, politischen und kulturellen Erneuerung ihrer Länder aufzurufen, also analog der Funktion, welche die Philosophie auch in Deutschland fast fünfzig Jahre zuvor ausgeübt hatte. Vergleichbares gilt, wie in diesem Kapitel gezeigt wird, auch für Polen oder für Finnland. Nationale kulturelle Traditionen und Zukunftsperspektiven haben bei den Rezeptionen des Deutschen Idealismus eine große Rolle gespielt und ihm jeweils ein besonderes Profil gegeben. Berücksichtigt man aber auch die wechselseitigen Interaktionen zwischen den nationalen Re- zeptionen, so wird über besondere nationale Merkmale hinaus der allgemein europäische Charakter der Wirkung des Deutschen Idealismus deutlich. Im ausgehenden 20. Jahrhundert war das Interesse am Deutschen Idealismus für eine gewisse Zeit rückläufig. Die nicht zuletzt im Kontext der Analytischen Philosophie, aber auch in Perspek- tiven von Einzelwissenschaften – z.B. an der spekulativen Erkenntnis-, Natur- und Geschichtsphilosophie – formulierte Kritik am metaphysischen Charakter des idealistischen Theorietypus ließ ihn als überholt erscheinen. Gegenwärtig ist ein Umdenken zu verzeichnen: Der Deutsche Idealismus zieht, wie die große Anzahl von ihm gewidmeten Quelleneditionen und Publikatio- nen sowie das Erscheinen des Internationalen Jahrbuchs des Deutschen Idealismus/ Internati- onal Yearbook of German Idealism (seit 2003) zeigt, in Forschung und Lehre neue Aufmerk- samkeit auf sich; er ist nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern weltweit aktuell.
2005
9783476021182
Idealismo tedesco; filosofia europea
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