Spricht man von Alltag, wird ein Bild impliziert von sich wiederholenden, immer gleich bleibenden Mustern, die mit dem Aufeinanderfolgen menschlicher Bedürfnisse einerseits und mit der Realität der Arbeitswelt andererseits verbunden sind. Man ist dazu geneigt, die Elemente des alltäglichen Lebens, ihre Wiederholbarkeit und Eintönigkeit für nicht literarisch würdig zu halten. Niemand, so das Allgemeinempfinden, interessiert sich für die minuziöse Darstellung des Tagesablaufs einer beliebigen Person und jemand, der versuchen wollte aus dem eigenen Tagesablauf eine detailgetreue Schilderung zu entwerfen, wäre rasch als Pedant und Langweiler abgestempelt. Doch gerade der Alltag stellt das Substrat des Erzählenswerten dar, den Normalzustand, "von dem sich das (erzählenswerte, erzählbare) Außergewöhnlich abhebt" (K.M. Michel: "Unser Alltag: Nachruf zu Lebzeiten", in: Kursbuch 41 (1975), S. 4). Ohne den gemeinsamen Nenner des Alltags, ohne das kollektive Einverständnis über den "normalen" Ablauf eines Tages, eines Lebens wäre eine Identifizierungsmöglichkeit mit den Figuren der Erzählung undenkbar und das Außergewöhnliche einer Geschichte nicht als solche zu erfassen. Gemessen am Tagesablauf des Einzelnen beherrscht die Lohnarbeit, bzw. Erwerbstätigkeit zweifelsohne unseren Alltag. Mehr noch: an ihr wird das Selbstbild konstituiert, gemessen, bestätigt oder verworfen. Sie wirkt als Identifikationselement oder Entfremdungsinstanz, als Projektionsfläche individueller Entfaltung oder persönlichen Rückstandes, sie nimmt die Privatsphäre auf oder steht ihr diametral entgegen, kurzum dominiert sie das Leben jedes Einzelnen. Es überrascht demnach nicht, dass auch die Literatur sich dem Thema Arbeit gewidmet hat und dass, bei allen Unterschieden, dieses Interesse bis heute nicht nachgelassen hat. Der Arbeitsalltag als Stoff der Literatur ist aber selbst in sozialistischen Ländern, in denen die befreite Arbeit zum sinnstiftenden Wert erhoben wurde, meistens dann von Interesse, wenn er auch mit der Darstellung von Erfahrungen und Situationen außerhalb der Arbeitswelt gekoppelt ist. Nicht die Eintönigkeit der Industriearbeit mit ihrer materiellen Produktion oder die Realität von käfigähnlichen Büros scheint heute wie gestern, im Osten wie im Westen das Interesse der Literatur für den Themenkomplex Alltag zu wecken, sondern die Beziehung zwischen Arbeit und Freizeit, die Verquickung von Arbeits- und Privatsphäre. Zwar gehört "die Organisation der Arbeit und des Privatlebens, Vergnügen und Ruhe, die systematisch gewordene gesellschaftliche Tätigkeit, Verkehr und Reinigung" wie selbstverständlich zum Alltagsleben (A. Heller: Alltag und Geschichte, Berlin 1970, S. 20), es drängt sich aber die Frage auf, ob und wie der Arbeitsalltag, verstanden als Abfolge produktionsorientierten Hantierens, literarische Form annehmen kann und ob das eigentlich zeitliche Überwiegen der Arbeit gegenüber dem Privatleben in der Literatur entsprechend umfassend geschildert wird. Zur Beantwortung dieser Frage beschäftigt sich dieser Aufsatz mit einer spezifischen Phase der DDR-Literatur. Eine kurze Einführung in die Kulturpolitik der 50er Jahre wird dazu dienen, die Bedeutung der Begriffe Alltag und Arbeit in der Programmatik des sozialistischen Realismus und ihre Entwicklung zu umreißen. Im Anschluss werden die beiden Begriffe am Beispiel dreier Romane überprüft, die meiner Meinung nach beispielhaft für unterschiedliche Auffassungen des Begriffes Arbeit und für eine gegensätzliche Darstellung des Problemfeldes Alltag stehen. Zwar beschäftigen sich die drei Romane mit unterschiedlichen Phasen der DDR-Geschichte, ihre Autoren aber gehören zu jener Generation von Schriftstellern, die Mitte der 30er Jahre geboren, beispielhaft für die Resultate der Erziehung des neu gegründeten sozialistischen deutschen Landes und ihrer Programmatik stehen.

Leben im Arbeiterparadies: Arbeit und Alltag in U. Johnsons "Mutmassungen über Jakob", B. Reimanns "Ankunft im Alltag" und W. Bräunig "Rummelplatz"

CHILESE, Viviana
2009

Abstract

Spricht man von Alltag, wird ein Bild impliziert von sich wiederholenden, immer gleich bleibenden Mustern, die mit dem Aufeinanderfolgen menschlicher Bedürfnisse einerseits und mit der Realität der Arbeitswelt andererseits verbunden sind. Man ist dazu geneigt, die Elemente des alltäglichen Lebens, ihre Wiederholbarkeit und Eintönigkeit für nicht literarisch würdig zu halten. Niemand, so das Allgemeinempfinden, interessiert sich für die minuziöse Darstellung des Tagesablaufs einer beliebigen Person und jemand, der versuchen wollte aus dem eigenen Tagesablauf eine detailgetreue Schilderung zu entwerfen, wäre rasch als Pedant und Langweiler abgestempelt. Doch gerade der Alltag stellt das Substrat des Erzählenswerten dar, den Normalzustand, "von dem sich das (erzählenswerte, erzählbare) Außergewöhnlich abhebt" (K.M. Michel: "Unser Alltag: Nachruf zu Lebzeiten", in: Kursbuch 41 (1975), S. 4). Ohne den gemeinsamen Nenner des Alltags, ohne das kollektive Einverständnis über den "normalen" Ablauf eines Tages, eines Lebens wäre eine Identifizierungsmöglichkeit mit den Figuren der Erzählung undenkbar und das Außergewöhnliche einer Geschichte nicht als solche zu erfassen. Gemessen am Tagesablauf des Einzelnen beherrscht die Lohnarbeit, bzw. Erwerbstätigkeit zweifelsohne unseren Alltag. Mehr noch: an ihr wird das Selbstbild konstituiert, gemessen, bestätigt oder verworfen. Sie wirkt als Identifikationselement oder Entfremdungsinstanz, als Projektionsfläche individueller Entfaltung oder persönlichen Rückstandes, sie nimmt die Privatsphäre auf oder steht ihr diametral entgegen, kurzum dominiert sie das Leben jedes Einzelnen. Es überrascht demnach nicht, dass auch die Literatur sich dem Thema Arbeit gewidmet hat und dass, bei allen Unterschieden, dieses Interesse bis heute nicht nachgelassen hat. Der Arbeitsalltag als Stoff der Literatur ist aber selbst in sozialistischen Ländern, in denen die befreite Arbeit zum sinnstiftenden Wert erhoben wurde, meistens dann von Interesse, wenn er auch mit der Darstellung von Erfahrungen und Situationen außerhalb der Arbeitswelt gekoppelt ist. Nicht die Eintönigkeit der Industriearbeit mit ihrer materiellen Produktion oder die Realität von käfigähnlichen Büros scheint heute wie gestern, im Osten wie im Westen das Interesse der Literatur für den Themenkomplex Alltag zu wecken, sondern die Beziehung zwischen Arbeit und Freizeit, die Verquickung von Arbeits- und Privatsphäre. Zwar gehört "die Organisation der Arbeit und des Privatlebens, Vergnügen und Ruhe, die systematisch gewordene gesellschaftliche Tätigkeit, Verkehr und Reinigung" wie selbstverständlich zum Alltagsleben (A. Heller: Alltag und Geschichte, Berlin 1970, S. 20), es drängt sich aber die Frage auf, ob und wie der Arbeitsalltag, verstanden als Abfolge produktionsorientierten Hantierens, literarische Form annehmen kann und ob das eigentlich zeitliche Überwiegen der Arbeit gegenüber dem Privatleben in der Literatur entsprechend umfassend geschildert wird. Zur Beantwortung dieser Frage beschäftigt sich dieser Aufsatz mit einer spezifischen Phase der DDR-Literatur. Eine kurze Einführung in die Kulturpolitik der 50er Jahre wird dazu dienen, die Bedeutung der Begriffe Alltag und Arbeit in der Programmatik des sozialistischen Realismus und ihre Entwicklung zu umreißen. Im Anschluss werden die beiden Begriffe am Beispiel dreier Romane überprüft, die meiner Meinung nach beispielhaft für unterschiedliche Auffassungen des Begriffes Arbeit und für eine gegensätzliche Darstellung des Problemfeldes Alltag stehen. Zwar beschäftigen sich die drei Romane mit unterschiedlichen Phasen der DDR-Geschichte, ihre Autoren aber gehören zu jener Generation von Schriftstellern, die Mitte der 30er Jahre geboren, beispielhaft für die Resultate der Erziehung des neu gegründeten sozialistischen deutschen Landes und ihrer Programmatik stehen.
2009
9783825356071
Letteratura tedesca; quotidianità e lavoro; DDR; Uwe Johnson; Brigitte Reimann; Werner Bräunig; realismo socialista
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