Das Interesse an der Arbeitswelt prägt die Literatur von den Anfängen der industriellen Revolution bis zum heutigen Tag. Durch die verschiedenen Etappen eines Bewusstwerdens der Bourgeoisie und später der Arbeiterklasse finden sich in allen europäischen Ländern unzählige Dokumente, Selbstdarstellungen und literarische Bearbeitungen von Erfahrungen wieder, die dieses Interesse bestätigen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zeigt allerdings die deutsche Literatur der Arbeitswelt anfangs einen gewissen Rückstand auf. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem mit dem Entstehen der Arbeiterbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts, das mit der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands im Jahr 1917 kulminiert, kann man von einem regelrechten Aufblühen dieses Genres sprechen. Neben der zahlenmäßig starken Schicht der Arbeiter lässt sich in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine gewachsene Angestelltenschicht verzeichnen. Im Gegensatz zum steigenden Klassenbewusstsein des Proletariats fehlen den Angestellten allerdings jegliche Erkenntnisse über die eigene Position im ökonomischen Prozess und folglich jegliches Standesbewusstsein. Darüber hinaus war der Mittelstand schon zur Zeit der Weimarer Republik von Rationalisierungsmaßnahmen betroffen, die als ein erstes Zeichen für eine steigende Amerikanisierung des deutschen Wirtschaftssystems gedeutet werden können. Die Literatur dieser Zeit berichtet über die Alltäglichkeit des Bürolebens und von der fragilen, durch die Wirtschaftskrise und die Durchrationalisierung der Arbeitsverhältnisse bedrohten Existenz von Sekretärinnen, Verkäufern oder Buchhaltern. Nach dem zweiten Weltkrieg blieb das Interesse an der Arbeitswelt in beiden Teilen Deutschlands erhalten. Im Westen wie im Osten zieht sich die Rhetorik des Klassenkampfes durch die deutsche Literatur der Arbeitswelt, und so verwundert es nicht, wenn sich mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus die literarische Produktion zunehmend von der Arbeitswelt distanziert. Der herauf beschworene Sieg des Kapitalismus scheint auch die Kritik des herrschenden ökonomischen Systems gedämpft und das Interesse an den Mechanismen und Motiven der materiellen Produktion endgültig aus dem Weg geräumt zu haben. Und doch lässt sich in der jüngsten deutschen Gegenwartsliteratur eine Wiederentdeckung der Arbeit als Sujet literarischer Bearbeitungen verzeichnen. Die im Artikel analysierten Romane zeigen allerdings einen bedeutenden Unterschied zu den traditionellen Veröffentlichungen der Arbeitsliteratur: Nicht die Welt der Industriearbeit mit ihrer materiellen Produktion oder die Welt des Angestelltenlebens erregt das Interesse der Autoren, sondern die der New Economy mit ihrer immateriellen Produktion, die Welt des Managerlebens und der Dienstleister. Diese Welt, wohlgemerkt unsere Welt, verlangt Kreativität, Effizienz, Flexibilität und Organisation zwar bezüglich der Arbeit, doch diese Forderungen reichen bis ins Individuelle hinein. Denkmuster, Sprach- und Verhaltensweise der ökonomischen Kultur prägen, so scheinen die Autoren suggerieren zu wollen, unser gesamtes Leben und erzeugen das gespaltene Bild eines Menschen, der sich dieser Mechanismen nicht erwehren kann, da er selbst sie erzeugt. Propagiert die Gegenwartsliteratur daraus eine Kritik der aktuell existierenden ökonomischen Verhältnisse? Wohl kaum. Vielmehr eine nüchterne Bestandsaufnahme. Damit stehen die Figuren dieser Romane durchaus in jener Tradition des Angestelltendaseins, wie es einst Kracauer dargestellt hat: Waren die Angestellten gekennzeichnet vom Streben in höhere gesellschaftliche Stellungen und von einem Mangel an Klassezugehörigkeitsgefühl, so zeigen die Figuren dieser Romane die Zuspitzung dieser Tendenz.

Menschen im Büro: Zur Arbeitswelt in der deutschen Gegenwartsliteratur

CHILESE, Viviana
2008

Abstract

Das Interesse an der Arbeitswelt prägt die Literatur von den Anfängen der industriellen Revolution bis zum heutigen Tag. Durch die verschiedenen Etappen eines Bewusstwerdens der Bourgeoisie und später der Arbeiterklasse finden sich in allen europäischen Ländern unzählige Dokumente, Selbstdarstellungen und literarische Bearbeitungen von Erfahrungen wieder, die dieses Interesse bestätigen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zeigt allerdings die deutsche Literatur der Arbeitswelt anfangs einen gewissen Rückstand auf. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem mit dem Entstehen der Arbeiterbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts, das mit der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands im Jahr 1917 kulminiert, kann man von einem regelrechten Aufblühen dieses Genres sprechen. Neben der zahlenmäßig starken Schicht der Arbeiter lässt sich in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine gewachsene Angestelltenschicht verzeichnen. Im Gegensatz zum steigenden Klassenbewusstsein des Proletariats fehlen den Angestellten allerdings jegliche Erkenntnisse über die eigene Position im ökonomischen Prozess und folglich jegliches Standesbewusstsein. Darüber hinaus war der Mittelstand schon zur Zeit der Weimarer Republik von Rationalisierungsmaßnahmen betroffen, die als ein erstes Zeichen für eine steigende Amerikanisierung des deutschen Wirtschaftssystems gedeutet werden können. Die Literatur dieser Zeit berichtet über die Alltäglichkeit des Bürolebens und von der fragilen, durch die Wirtschaftskrise und die Durchrationalisierung der Arbeitsverhältnisse bedrohten Existenz von Sekretärinnen, Verkäufern oder Buchhaltern. Nach dem zweiten Weltkrieg blieb das Interesse an der Arbeitswelt in beiden Teilen Deutschlands erhalten. Im Westen wie im Osten zieht sich die Rhetorik des Klassenkampfes durch die deutsche Literatur der Arbeitswelt, und so verwundert es nicht, wenn sich mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus die literarische Produktion zunehmend von der Arbeitswelt distanziert. Der herauf beschworene Sieg des Kapitalismus scheint auch die Kritik des herrschenden ökonomischen Systems gedämpft und das Interesse an den Mechanismen und Motiven der materiellen Produktion endgültig aus dem Weg geräumt zu haben. Und doch lässt sich in der jüngsten deutschen Gegenwartsliteratur eine Wiederentdeckung der Arbeit als Sujet literarischer Bearbeitungen verzeichnen. Die im Artikel analysierten Romane zeigen allerdings einen bedeutenden Unterschied zu den traditionellen Veröffentlichungen der Arbeitsliteratur: Nicht die Welt der Industriearbeit mit ihrer materiellen Produktion oder die Welt des Angestelltenlebens erregt das Interesse der Autoren, sondern die der New Economy mit ihrer immateriellen Produktion, die Welt des Managerlebens und der Dienstleister. Diese Welt, wohlgemerkt unsere Welt, verlangt Kreativität, Effizienz, Flexibilität und Organisation zwar bezüglich der Arbeit, doch diese Forderungen reichen bis ins Individuelle hinein. Denkmuster, Sprach- und Verhaltensweise der ökonomischen Kultur prägen, so scheinen die Autoren suggerieren zu wollen, unser gesamtes Leben und erzeugen das gespaltene Bild eines Menschen, der sich dieser Mechanismen nicht erwehren kann, da er selbst sie erzeugt. Propagiert die Gegenwartsliteratur daraus eine Kritik der aktuell existierenden ökonomischen Verhältnisse? Wohl kaum. Vielmehr eine nüchterne Bestandsaufnahme. Damit stehen die Figuren dieser Romane durchaus in jener Tradition des Angestelltendaseins, wie es einst Kracauer dargestellt hat: Waren die Angestellten gekennzeichnet vom Streben in höhere gesellschaftliche Stellungen und von einem Mangel an Klassezugehörigkeitsgefühl, so zeigen die Figuren dieser Romane die Zuspitzung dieser Tendenz.
2008
9783826037887
Letteratura tedesca contemporanea; lavoro e letteratura; Rainer Merkel; Kathrin Röggla; Anne Weber; Annette Pehnt; Ernst-Wilhelm Händler
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